Michael Müller: GEMEINSAME SICHERHEIT – GEBOT UNSERER ZEIT
Redebeitrag auf der Abrüsten Aktionskonferenz am 18. April 2021
von Michael Müller, Bundesvorsitzender NaturFreunde Deutschlands und Parlamentarischer Staatssekretär a. D.
I.
Bei keinem anderen Thema ist der Widerspruch zwischen seiner Bedeutung und der öffentlichen Aufmerksamkeit so groß wie den Fragen von Frieden, Abrüsten und Entspannen. Es ist unsere Verantwortung – eine Verantwortung aus der Geschichte wie eine Verantwortung angesichts heutiger Herausforderungen -, dass wir die Friedensbewegung wieder stärken und sie mit einer Kultur des Friedens und der Abrüstung breit in der Gesellschaft verankern. Denn unser Jahrhundert wird entweder ein Jahrhundert der Gewalt und erbitterter Vertei-lungskämpfe oder es wird ein Jahrhundert der Nachhaltigkeit und gemeinsamen Sicherheit.
Das entscheidet sich heute. Unsere Zeit ist eine Schlüsselsituation, in der wir es nicht nur mit beispiellosen globalen Gefahren zu tun haben, sondern auch – wenn wir scheitern – mit ei-nem beispiellosen Versagen. Die Vereinten Nationen schreiben im Human Development Re-port, dass es in unserer Geschichte wahrscheinlich noch nie eine Situation gegeben hat, die vergleichbar ist mit der Dringlichkeit der heutigen Menschheitsherausforderungen.
Kriege fallen nicht vom Himmel. Fünf Ursachen will ich nennen, die eng miteinander verschränkt sind:
– Die Militarisierung von Politik und Denken, die zu einer Spirale der Aufrüstung und Konfrontation führen;
– neue Technologien, die die Schwelle für den Einsatz von Gewalt senken;
– Machtgier, Expansionsstreben und Herrschaftsinteressen;
– die Zuspitzung sozialer Ungleichheit und ökologischer Konflikte;
– kultureller Totalitarismus und Autoritarismus.
II.
Ich bin Vorsitzender der Naturfreunde Deutschlands. Unser Verband hat sich nicht nur von Anfang an für die Verbindung von sozialer und ökologischer Emanzipation eingesetzt, son-dern ist eng mit der Friedensbewegung verbunden. Zu uns gehörten auch Georg Elser und Willy Brandt.
Ich will besonders auf die ökologischen Gefahren eingehen, die nicht losgelöst gesehen wer-den dürfen vom inneren und äußeren Frieden auf unserem Planeten. Der Kern ist, dass die Endlichkeit der Naturgüter missachtet wird und dabei planetarische Grenzen überschritten werden. Das bisherige Fortschrittsdenken und das technische Irrtumslernen, dem die mo-derne Gesellschaft so viel zu verdanken hat, gehen jedoch von Grenzenlosigkeit aus, ist von daher nicht kompatibel mit dem Erdsystem. Die Klimakrise zeigt, wir überlasten die natürli-chen Senken. Peak-Oil oder Peak-Water belegen, wir plündern die Naturgüter verantwor-tungslos aus. Und mit der Zerstörung der Biodiversität vernichten wir die biologischen Biblio-theken unseres Planten.
Schon die schiere Quantität macht eine ökologische Selbstvernichtung denkbar. Seit der in-dustriellen Revolution hat die Beanspruchung der natürlichen Lebensgrundlagen bis heute um das Hundertfache zugenommen. Die Eingriffstiefe in die Öko-Systeme ist noch viel stär-ker angestiegen. In den Industriestaaten erhöhte sich die Ressourcennutzung pro Kopf um das Zwanzigfache. Zudem hat sich die Weltbevölkerung nahezu verzehnfacht. Dass damit Naturschranken überschritten werden, spitzt sich dramatisch zu in der vom Menschen verur-sachten Klimakrise.
Rote Linien werden überschritten. Al Gore hat die Erderwärmung bereits vor drei Jahrzehn-ten im „ökologischen Marschallplan“ mit einem globalen HIV-Virus verglichen, dessen Fieber das Immunsystem unseres Planeten zerstört, das das menschliche Leben möglich macht. So kommen mit der Klimakrise, Peak-Oil. Der Zerstörung der Arten, der nachholenden Industria-lisierung und bis Mitte des Jahrhunderts weitere zwei Milliarden Menschen zu Synergien, deren negative Folgen nahezu unvorstellbar sind.
Im derzeitigen Trend wird die Konzentration der Treibhausgase zwischen 2042 und 2045 eine globale Erwärmung von 1,5 Grad Celsius erreichen. Dass auch die Corona-Pandemie diese Entwicklung nur geringfügig gebremst hat, zeigt, dass es nicht in erster Linie um indivi-duelle Verhaltensänderungen geht, sondern um Grundfragen der Wirtschafts- und Gesell-schaftsordnung. Die gravierenden Folgen zeigen sich vor allem in den ökologisch sensiblen Erdregionen wie Inselstaaten, niedrigen Küstenregionen, Flussdeltas und Afrika. Doch dieser Temperaturanstieg ist wahrscheinlich nicht mehr zu verhindern, denn der Klimawandel hat eine zeitliche Anpassung von rund vier Jahrzehnten. Das heißt: Wir haben es in der näheren Zukunft mit „vollendeten Tatsachen“ zu tun.
Im Trend werden wir zwischen 2065 und 2070 die verhängnisvolle 2 Grad Celsius Grenze überschreiten, schon vorher – bei wahrscheinlich 1,8 Grad – werden die Korallenriffe, das zweitgrößte Öko-System der Erde, von dem rund 5000 Millionen Menschen abhängig sind, unwiederbringlich absterben. Wahrscheinlich werden vorher auch Kipppunkte erreicht, an denen sich die Entwicklung gewaltig beschleunigt, die Richtung ändert oder zusammenbre-chen. Dazu zählen beispielweise die thermohalinen Strömungen im Atlantik, eine Auftauen der Permafrostregionen oder die Austrocknung der Regenwälder.
III.
Die Klimakrise ist ein Krieg gegen die Natur und die Menschen, noch gravierender ist, dass die Klimakrise trotz ihres globalen Charakters auch ein Krieg in der Menschheit ist. Denn die Auswirkungen werden über viele Jahrzehnte noch zeitlich, räumlich und sozial auf tragisch höchst ungerechte Weise verteilt sein, vor allem als Bedrohung für die Armen und Ungebo-renen, die über die geringsten Möglichkeiten verfügen, sich dagegen wehren zu können. Die Hauptverursacher sind nämlich in der Regel nicht die Hauptbetroffenen. Eine Ausnahme ist vielleicht Los Angeles, das von dem „feuchten Kuss des Pazifiks“ (Mike Davies) betroffen sein wird.
Drei Beispiele für die Folgen der globalen Ungleichheit:
– Auf dem afrikanischen Kontinent leben rd. 18 Prozent der Weltbevölkerung. Die dor-tigen Menschen verursachen allerdings nur rd. 3,5 Prozent der globalen Treibhausga-se. Und es ist der Kontinent, auf dem heute das weitaus höchste Bevölkerungswachs-tum zu verzeichnen ist.
– Das reichste Prozent der Weltbevölkerung ist für knapp 15 Prozent der wärmestau-enden Emissionen verantwortlich.
– Die Epizentren der Trockenheit, Überflutung und Wetterextreme werden in den ar-men Weltregionen liegen, wo es auch zuerst zu einem Zusammenbruch der Ernäh-rungsgrundlagen kommen wird.
Die realen Ergebnisse der Klimakonferenz von Paris 2015 bleiben weit hinter dem Notwendi-gen zurück. Die dort vorgelegten Selbstverpflichtungen der 196 Staaten würden zu einer Re-duktion der Treibhausgase führen, deren Konzentration je nach Wahrscheinlichkeitsberech-nung zu einem Temperaturanstieg um 2,8 bis 3,2 Grad Celsius führen würde. Doch die Nicht-einhaltung der Selbstverpflichtungen kann zwar durch den Kontrollmechanismus kritisiert, aber nicht sanktioniert werden. Und die reale Umsetzung bleibt deutlich zurück, zum Beispiel durch die Aussetzung unter Donald Trump in den USA, dem zweitgrößten Emittenten, und in Brasilien, dem zwölfgrößten Klimasünder.
Die Klimakrise wird die Ungleichheit auf der Erde verstärken und gewaltige Verteilungskon-flikte auslösen. Daraus ergibt sich die Gefahr, dass auf einer zunehmend unwirtlichen Welt versucht wird, Reichtum und Wohlstand in eingesperrte und hochgerüstete grünen Oasen abzuschotten. In einer Welt, die zu einer zerbrechlichen Einheit wird, liegt hierin eine ent-scheidende Ursache für Gewalt und Krieg. Und die Migrationsbewegungen werden sich wei-ter zuspitzen. Schätzungen gehen davon aus, dass Mitte unseres Jahrhunderts rd. drei Milli-arden Menschen in Slums leben werden. Mike Davies spricht bereits von einem Planeten der Slums.
Um diese Gefahren zu verhindern, müssen die Gewaltpotenziale abgebaut werden – Abrüs-ten statt Aufrüsten – und muss sich die Welt aus den neoliberalen Zwängen befreien. Und das betrifft auch Macron, Biden, Johnson und Merkel, die genauso die Verantwortung dafür tragen, dass die Welt auf einen Abgrund zusteuern.
IV.
Bisher gibt es nur wenige mutige Konzepte, die den Herausforderungen aus Armut, sozialer Ungleichheit, Zerstörung der Biodiversität, nachholender Industrialisierung und Peak-Oil mit einer ganzheitlichen Vision des menschlichen Fortschritts begegnen. Das ist unsere Heraus-forderung: Die sozial-ökologische Gestaltung der Transformation. Die Verwandtschaft zwi-schen sozialer und ökologischer Verantwortung kann nur durch einen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft möglich werden.
Was wir dafür brauchen, ist ein explizit utopisches Denken, dass von einer Weltinnenpolitik ausgeht. Im nächsten Jahr ist es 40 Jahre her, dass der Olof Palme-Bericht „Gemeinsame Sicherheit“ veröffentlicht wurde. Dort heißt es: „In einer Zeit, in der die ökonomischen, poli-tischen, kulturellen und militärischen Verflechtungen un d Abhängigkeiten ständig zunehmen, in der sich auch Gefahren und Krisen grenzüberschreitend auswirken, kann Sicherheit nicht länger nur militärisch und vor allem Dingen nicht länger einseitig bzw. autonom erlangt wer-den. … Beide Seiten müssen Sicherheit erlangen, nicht vor dem Gegner, sondern gemeinsam mit ihm.“
Der Palme Bericht muss in einem Zusammenhang mit den beiden anderen UN-Berichten gesehen werden, dem zum Gemeinsamen Überleben, der Nord-Süd-Bericht von Willy Brandt, und zur Gemeinsamen Zukunft, der Brundtland-Bericht zu Umwelt und Entwicklung von Gor Harlem, der die Leitidee der Nachhaltigkeit auf die politische Agenda setzen sollte. Die Grundidee war „Gemeinsamkeit“, die heute, in der Epoche von Globalisierung und Anthro-pozän noch wichtiger geworden ist.
Die Idee der Gemeinsamen Sicherheit entstand in der Welt des Ost-West-Konflikts, der Kon-frontation und des kalten Krieges. Sie ist heute als Grundlage einer Weltinnenpolitik wichti-ger denn je. Es ist ein besorgniserregendes Zeichen, dass die Politik wieder in alte Denkwei-sen zurückfällt, obwohl eine Weltinnenpolitik der gemeinsamen Sicherheit wichtiger denn je ist.